Mehr als „nur nicht lesen können“

Am 8. September ist Weltalphabetisierungstag

„In der Haft ist es sehr wichtig, dass man sich weiterbildet und nicht zurückbleibt. Auch Zeitungen und Bücher dienen dazu. Nach 13 oder 15 Jahren ist es sonst sehr schwer, einen Fuß in die Gesellschaft zu bekommen. Von der Außenwelt viel mitzubekommen ist sehr wichtig. Denn Knastgeschichten sind nicht so schön. Nur Geläster. Daher wichtig: Weiterbildung.“ (Gefangene, JVA Schwäbisch Gmünd, 2022)

Dass es Menschen gibt, die nicht schreiben und lesen können, ist den meisten Menschen bewusst. Dieser sogenannte primäre Analphabetismus ist jedoch nur eine Ausprägung des Analphabetismus, wahrscheinlich die auffälligste.

Wenn ein Mensch zwar lesen, aber nicht schreiben kann (semi-Analphabetismus), dann fällt das im Alltag häufig nicht auf, da der Briefverkehr eindeutig zurückgegangen ist und wir durch die Digitalisierung an den elektronischen Geräten unsere gesprochenen Worte in Texte umwandeln können, ohne einen Buchstaben zu schreiben.
Auf den Rückgang des Briefverkehrs und die Digitalisierung lässt sich auch der sekundäre Analphabetismus zurückführen: das Verlernen des Schreibens durch die nicht vorhandene Nutzung der Fähigkeit.

Am schwierigsten zu greifen ist der funktionale Analphabetismus. Wer lesen und schreiben kann, aber Mühe hat, einen zusammenhängenden Text zu verstehen, oder gar nicht greifen kann, fällt in diese Kategorie. Laut der 2018 erschienenen LEO Studie der Universität Hamburg betrifft das 6,2 Millionen Menschen in Deutschland (https://leo.blogs.uni-hamburg.de/leo-2018-62-millionen-gering-literalisierte-erwachsene/).

Besonders betroffen sind davon Menschen, deren Berufe wenig mit dem geschriebenen Wort zu tun haben: Bauarbeiter, Köche, Maler und Lkw-Fahrer.

Wie ist es dann für Menschen in Haft? Viele Inhaftierte haben in ihrem Haftraum keine Bücher und Zeitungen, weder digital noch auf Papier. Fernseher und Radios sind in den Vollzugsanstalten weit verbreitet und der Standardzugang zu den Medien. Die Chancen, einen sekundären Analphabetismus zu entwickeln, steigen also mit der Länge der Inhaftierung.

„Mich langweilt TV schauen nach einer gewissen Zeit. Deswegen lese ich manchmal 2 Stunden am Stück täglich. Ich möchte gerne wissen. Oder Menschen erklären, was Dinge bedeuten. Im Gefängnis erzählen die Jungs meistens Stories weiter, die sie zuvor im TV gesehen haben. Jedoch haben viele ein ähnliches Interesse. Auch wenn natürlich jeder individuell ist. Und sie können mir glauben, manchmal laufen hier Stories wie „stille Post“ und etwas wird dazu gedichtet und gerne dicker aufgetragen. So sind die Boys halt. Und ich möchte mich etwas abheben. Und den Jungs „konstruktiv und tatsächlich“ erklären & erzählen. Und das kann ich dank meiner Bildung.“ (Gefangener, JVA Saarbrücken, 2022)

Wer auch in Haft regelmäßig Zeitung liest, bleibt in Kontakt mit der Außenwelt – und trainiert sein Lesevermögen. Für eine Zeitung spenden